Der Herr Veselka

Auf der kleinen Kreuzung bei der hölzernen Kabine des Sportplatzes ging ein Mann. Leicht gebückt, zog er mit der rechten Hand einen Leiterwagen, in der linken Hand hielt er die Leine seines großen rotbraunen Cockerspaniels, der geduldig neben ihm hertrottete. Der Leiterwagen war beladen, und ich wusste genau, was sich darin befand: Bücher. Wunderbare Bücher, eingewickelt in glattes, braunes, auf einer Seite in feinen Linien dunkel gestreiftes Packpapier, das beim Auswickeln knisterte. Ich konnte mich nie entscheiden, auf wen ich mich mehr freute: Auf den alten Mann, der mir und meinen Eltern so viele wunderbare Stunden mit seiner Buchlieferung bescherte, oder auf den schönen, freundlichen Hund. Igor hieß der Hund; sein Herrchen war Herr Anton Veselka, ein Nachbar meiner Eltern, der die örtliche Vertretung eines großen Buchclubs innehatte. Fast jedes Mal brachte er mit seiner Lieferung auch den jeweils neuen Katalog mit, eine Krönung meines Tages, in die ich mich stundenlang vertiefen konnte.

Meine Eltern waren herkunftsbedingt eher sparsame Menschen, aber wenn ich zurückdenke, so war für Bücher immer Geld da. Die Bücher waren nicht nur für mich bestimmt, denn auch meine Eltern lasen gern und viel. Mein Vater mochte Krimis und Reiseberichte, meine Mutter humorvolle Geschichten und natürlich Gartenbücher. Ein oder zwei Kinder- und später Jugendbücher durfte ich mir immer selber aussuchen, manchmal auch drei, und von meiner übrigen Verwandtschaft wünschte ich mir ohnehin zu jeder Gelegenheit Lesestoff.

Herr Veselka, dessen Sprache einen deutlichen Wiener Einschlag hatte, plauderte gerne mit meiner Mutter, auch mit beiden Eltern, sofern mein Vater zu Hause war. Mir konnte es recht sein, dann hatte ich nämlich genug Zeit, Igor zu kraulen und mich von seinem treuherzigen Blick einwickeln zu lassen. Manchmal, wenn Herr Veselka krank war oder es viel zu tun gab, kam an seiner Stelle seine Frau zu uns. Mimi war ihr Name – ich weiß bis heute nicht, welchen Vornamen sie offiziell hatte – und sie erzählte einmal, sie sei in Hannover aufgewachsen, in einer kinderreichen Familie, aber den Kindern sei es gut gegangen, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen war, dass ihr Vater zu jener Zeit bei den Bahlsenwerken arbeitete. Keksbruch war schon damals nicht für den normalen Handel vorgesehen, und so kamen die Kinder in den Genuss von Keksen, die zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts alles andere als eine Alltäglichkeit und für viele Menschen von vornherein nicht leistbar waren.

Mimi und Anton hatten keine Kinder. Sie lebten viele Jahre lang mit ihrem Hundchen in dem hübschen kleinen Haus, das man vom Küchenfenster meiner Eltern aus sehen konnte und in dem sie offenbar ihren Frieden gefunden hatten. Die beiden waren schon in Pension, als ich noch ein Kind war. Über Kriegserlebnisse wurde nicht gesprochen, zumindest nicht in meiner Gegenwart. Ein paar der Narben, die an Herrn Veselkas Armen und am Hals zu sehen waren, wenn er im Sommer kurzärmelige Hemden trug, fielen mir jedoch auf. Gefragt habe ich nie danach. Ich wollte den freundlichen alten Mann mit seinen wunderbaren Büchern nicht kränken, und soviel war mir als Kind klar: Solche Narben sind nie mit schönen Erinnerungen verbunden. Heute würde ich gerne die Lebensgeschichten dieser beiden Menschen kennen.

Über La Contessa (Walküre a.D.)

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